Schyren-Gymnasium Pfaffenhofen
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Text gewordenes Kuriositätenkabinett

Urs Widmer liest im Schyren-Gymnasium aus seinem Erzählband „Stille Post“

Eine eigentümliche Mischung ist Urs Widmers aktueller Prosaband „Stille Post“, aus dem der Autor 2011 in der Aula des Schyren-Gymnasiums gelesen hat. Widmer beginnt mit der Erzählung „Reise nach Istanbul“, einem langen Traumprotokoll: rätselhafte Schriftzeichen, ein Zug nach nirgendwo, Treppen hinab und hinauf, Herumirren in einer Stadt, die irgendwie auf dem Balkan liegt, irgendwie aber auch Stuttgart ist, ein Inferno und die Rückkehr in die eigene Kindheit, ins Labyrinth der Schule.
Manche Motive sind reizvoll. Deftig-Erotisches ist dabei, auch körperliche Verstümmelung und Apokalypse, Sichabarbeiten an den Eltern; ein paar Dada-Reminiszenzen in Gestalt wenig motivierter Wortspiele – aber macht diese Aneinanderreihung eine Geschichte?

In einem zweiten Text tritt Widmer in einen Dialog mit sich selbst ein; wiedergefundene Prosafragmente aus den Siebzigerjahren kommentiert er aus heutiger Sicht. Vielleicht eine Handvoll fruchtbarer Ansätze – doch alles, was nur annähernd politische Brisanz entwickeln könnte, wird schließlich eingekocht in der großen surrealistischen Soße. Etwas verstörend, vielleicht auch peinlich, dass die Hiroshima-Bombe und der Elfte September herhalten müssen, um die vergleichsweise banale Wahrheit zu illustrieren, dass im Leben halt manches vom Zufall abhängig und es wichtig ist, im richtigen Augenblick nicht am falschen Ort zu sein – ginge es nicht auch eine Nummer kleiner?

Am Ende liefert Widmer eine Familiensatire. Die Tante mit ihren notorisch nassen Küssen, die redselige Alte, die einfach nicht sterben will – doch diese überzeichneten Charaktere stehen in der Geschichte herum wie hölzerne Karikaturen in einem Puppentheater ohne Handlung; Widmer arbeitet auch hier rein assoziativ; reiht locker und ohne Spannungsbogen diese und jene Betrachtung aneinander. Er liest humorvoll und akzentuiert, gestikulierend. Immerhin ein Teil des Publikums fühlt sich gut unterhalten, wo der Text um die Begriffe Italiener, Grappa, Chinesen und Spaghetti kreist; doch die bloße Häufung von Klischees macht noch keine Ironie.

Elisabeth Haberl und Julia Tiefenthaler vom Schyren-Gymnasium, die den Autorenabend mit viel persönlichem Einsatz und Sponsorengeldern vom Rotary-Club und von Fachbetreuerin Ursula Beyer auf die Beine gestellt haben, ist nach der gut besuchten Veranstaltung zu wünschen, dass die Lesereihe mit weiteren namhaften Schriftstellern weitergeführt wird. Widmer freilich, der mit „Top Dogs“ und „Der Geliebte der Mutter“ ganz ohne Zweifel zu den bedeutenden Autoren der Gegenwart zählt, muss sich fragen lassen, ob er mit „Stille Post“ nicht eher ein Produkt literarischer Resteverwertung abgeliefert hat.

Roland Scheerer